Trainingswissenschaft für die Praxis von Sebastian Mühlenhoff, Andreas Wagner und Adrian Swoboda
Der Gedanke, jederzeit und überall eine Leistungsdiagnostik machen zu können, ganz ohne physiologische Parameter zu erheben, ist verlockend. Aber geht das überhaupt? Leistungsdiagnostik mit der Rolle im Wohnzimmer? Oder auf der Laufbahn um die Ecke? Nur mit Wattmesser und GPS-Uhr? Daten aufzeichnen. Online an Diagnostiker senden. Fertig?
Was in der Theorie gut gedacht ist, zeigt sich in der Praxis als nur bedingt geeignet. Zum einen nimmt die eingesetzte Messtechnik Einfluss auf die Ergebnisse. Mobile Powermeter, Wattkurbeln und gängige Rollentrainer unterliegen in puncto Messgenauigkeit anderen Gütekriterien als permanent gewartete und kalibrierte Messgeräte im Labor.
Und zum anderen steht am Ende solcher „Remote-Diagnostiken“ eine Auswertung auf Basis von softwarebasierten Stoffwechselsimulationsrechnungen. Diese mathematischen Modelle basieren auf vielen Annahmen und hängen stark von der Qualität der Inputvariablen ab. Eine mangelhafte Standardisierung bei der Testdurchführung und ungenaue Messtechnik lassen die Qualität deshalb besonders leiden.
Trotz der hohen Fehleranfälligkeit bekommen Stoffwechselsimulationsrechnungen im Ausdauersport vermehrte Aufmerksamkeit. Nicht nur zuletzt durch vollmundige Versprechungen, dass sie Leistungsdiagnostik und Trainingsplanung auf ein neues Level heben. iQ athletik hat genauer hingesehen und viel Erfahrung gesammelt. Ergebnis: Es hat sich gezeigt, dass sich mit den "klassischen" Methoden der Leistungsdiagnostik qualitativ bessere Ergebnisse erzielen lassen. Jüngste Untersuchungen belegen dies ebenfalls.
Wie Stoffwechselsimulationsrechnungen in der Theorie funktionieren, wo die Grenzen in der Praxis liegen und was die besseren Alternativen sind, wird folgend anschaulich und unter Einbezug neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse erklärt.
Vereinfacht gesagt bezeichnet eine Simulation das Nachbilden von realen Szenarien mit Hilfe von Modellen. Ein Modell stellt dabei die wichtigsten Verhaltensweisen und Merkmale eines ausgewählten Prozesses oder Systems dar. Simulationen mit Hilfe von Computerprogrammen sollen dann zeigen, wie sich ein Prozess oder ein System unter verschiedenen Bedingungen verändert.
Im Sport – ganz besonders im Ausdauersport – spielt der menschliche Stoffwechsel unter Belastung eine zentrale Rolle. Bereits im Jahr 1984 wurden erste Versuche unternommen, um Teile des Energiestoffwechsels in mathematischen Formeln abzubilden (Mader 1984). Durch Weiterentwicklungen konnten Computerprogramme entwickelt werden, welche die Prozesse des Energiestoffwechsels unter sportlicher Belastung simulieren. Eingesetzt werden diese Simulationen u.a. im Bereich der Leistungsdiagnostik, um Leistungsdefizite einzugrenzen und Rückschlüsse für die Trainingsplanung zu ziehen (Nolte 2019).
Softwarebasierte Stoffwechselsimulationen geben z.B. Aussagen über den Verlauf der Sauerstoffaufnahme, die Laktatkonzentration im Blut, die Fettoxidation (Fettverbrennung) und die Glykolyse (Kohlenhydratstoffwechsel). Die Computerprogramme ermöglichen diese Berechnung bereits auf Basis weniger Eingangsgrößen. Hierbei kann schon die Eingabe der maximalen Sauerstoffaufnahme (Vo2max) und der maximale Laktatbildungsrate (VLamax) ausreichend sein (1-Kompartment-Muskelmodell). Neuere Modelle beziehen weitere Parameter mit ein, wie die relative aktive Muskelmasse und das Körpergewicht (vgl. Mesics 2022).
» Der menschliche Energiestoffwechsel ist so individuell wie ein Fingerabdruck. Mathematische Modelle können deshalb nicht eins zu eins auf jedes Individuum übertragen und angewendet werden. Aktuelle Softwarelösungen zur Stoffwechselsimulation berücksichtigen dies nicht ausreichend. «
Andreas Wagner M.A.
Mitbegründer von iQ athletik, Sportwissenschaftler
Jede Simulation, die mit den heutigen Modellen erstellt wird, sollte hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit in Frage gestellt werden. Zum einen wird bei Simulationsrechnungen das sehr komplexe System des menschlichen Energiestoffwechsels nur vereinfacht berücksichtigt. Dabei werden nur die wichtigsten Prozesse des Energiestoffwechsels mathematisch modelliert (vgl. u.a. Mader 1984). Alle außerhalb der Arbeitsmuskulatur ablaufenden Prozesse – im passiven, unbelasteten Teil des Körpers – bleiben oftmals unberücksichtigt. Hierbei wird vom „1-Kompartment-Muskelmodell“ gesprochen, das gegenwärtig den Standard in den meisten Stoffwechselsimulation darstellt (Nolte 2019, Nolte und Kollegen 2022).
Und zum anderen wird meist nur mit zwei variablen Werten gerechnet: der maximalen Sauerstoffaufnahme (Vo2max) und der maximale Laktatbildungsrate (VLamax). Die restlichen Werte in der Berechnung basieren auf vielen Annahmen; das heißt, dass mit vielen Konstanten gerechnet wird (Nolte und Kollegen 2022).
Ohne ins Detail zu gehen, soll hier anhand einer essenziellen Formel aus der Stoffwechselsimulation veranschaulicht werden, mit wie vielen Konstanten gerechnet wird. Alle in der folgend abgebildeten Formel rot markierten Angaben sind Konstanten (Nolte und Kollegen 2022). Für diese Konstanten werden zum Teil voneinander abweichende Werte in der relevanten Literatur genannt (Appelhans und Kollegen 2018).
Je nachdem, mit welchen Konstanten in einer Simulation gerechnet wird, fallen die Ergebnisse unterschiedlich aus. Zudem ist es bei so vielen gegebenen Konstanten mehr als nur fraglich, in wie vielen Fällen die Formel ein Individuum nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt. Es darf nicht ausgeblendet werden, dass der Stoffwechsel so individuell wie der Fingerabdruck eines Menschen ist!
Vor diesem Hintergrund – und mit Blick auf die heute eingesetzten Rechenmodelle – sollten daher alle Ergebnisse aus einer Stoffwechselsimulation kritisch hinterfragt werden, bevor daraus Rückschlüsse für die Trainingspraxis gezogen werden.
» Essentially, all models are wrong, but some are useful. «
George E. P. Box, englischer Statistiker
Die Stoffwechselsimulation ist mit Blick auf die Praxis zunächst sehr einfach umzusetzen. Es braucht nur wenige Eingabegrößen (Messwerte), um Simulationen durchführen zu können. Wie schon erwähnt, reichen hier meist die zwei Messgrößen: Sauerstoffaufnahme (VO2max) und maximale Laktatbildungsrate (VLamax). Diese Werte lassen sich in der Praxis z.B. auf dem Fahrradergometer bestimmen – durch einen Rampentest (VO2max) von ca. 10 bis 15 Minuten und durch einem Sprinttest (VLamax) von 15 Sekunden.
Problem dabei: Nur zwei Eingabegrößen lassen das Fehlerpotential steigen. Ist nur einer der beiden Werte fehlerhaft bestimmt, ist die ganze Simulationsrechnung unstimmig. Und ein hohes Potenzial für ungenaue Eingabegrößen ist hierbei durchaus gegeben. Rampen- und Sprinttest erfordern eine maximale Belastung („All out“). Hier zeigt sich in der Praxis vermehrt, dass dieses Testmethodik besonders für Trainingseinsteiger und Agegrouper problematisch ist. Sowohl motivational als auch motorisch können diese hierbei oftmals nicht ihre maximale Leistung abrufen bzw. erbringen.
Zudem müssten Gewöhnungseinheiten vorausgehen, um Lerneffekte und Fehler beim Test zu vermeiden. Das maximale Sprinten auf dem Fahrradergometer bedarf Übung, besonders dann, wenn im Training keine Sprints trainiert werden. Allein schon aus diesen Aspekten heraus, empfiehlt sich für Agegrouper und Sporteinsteiger eher ein klassisches Testverfahren wie z.B. ein Stufentest.
Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass die Messgröße VLamax (maximale Laktatbildungsrate) in der Wissenschaft durchaus diskutiert wird, hinsichtlich ihrer tatsächlichen Aussagekraft im Energiestoffwechsel. Weitere Forschung ist hier wünschenswert und nötig (vgl. auch Nolte und Kollegen 2022).
» In der Leistungsdiagnostik steht die Stoffwechselsimulation auf wackligen Beinen. Zum einen wird mit mathematischen Annahmen gerechnet, die nicht auf jeden Menschen zutreffen. Und zum anderen ist die Methodik mit einem All-out-Sprinttest grundsätzlich nur für geübte Sportler geeignet. Diese Aspekte machen es schwierig, mit einer Simulation ins Schwarze zu treffen. «
Adrian Swoboda B.A.
Leistungsdiagnostiker und Sportwissenschaftler
Grundsätzlich müssen die Modelle zur Stoffwechselsimulation als noch nicht ausreichend validiert angesehen werden, obwohl die Ursprungsberechnungen bereits aus dem Jahre 1984 stammen (Mader 1984 1, Nolte und Kollegen 2022).
Für die sportliche Belastung Radfahren konnten in Untersuchungen nur bedingt Übereinstimmungen erzielt werden, wenn das maximale Laktat Steady State (MLSS) im Fokus steht und berechnete bzw. simulierte Ergebnisse mit einer klassischen Leistungsdiagnostik (Dauerversuch) verglichen werden (Weber 2003, Hauser und Kollegen 2014, Nolte und Kollegen 2022).
Für die Disziplin Laufen zeigt sich die Simulation noch deutlich schlechter geeignet. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass das Bestimmen des maximalen Laktat Steady State (MLSS) für die Belastung Laufen – mit den aktuellen Modellen – nicht funktioniert (Nolte und Kollegen 2022).
Es bedarf grundlegend weiterer Studien zur Absicherung der Stoffwechselsimulationsrechnungen. Bislang wurden nur wenige Untersuchungen durchgeführt.
Die Simulation des menschlichen Energiestoffwechsels eignet sich vor allem für die Lehre. Sie ist ein gutes didaktisches Modell zum Vermitteln und Visualisieren grundlegender Stoffwechselprozesse (vgl. auch Mesics 2022).
» Grundsätzlich müssen die Modelle zur Stoffwechselsimulation als noch nicht ausreichend validiert angesehen werden, obwohl die Ursprungsberechnungen bereits aus dem Jahre 1984 stammen. Den größten Nutzen für die Sportpraxis bringt immer noch die klassische Leistungsdiagnostik mit dem Ansatz: messen statt rechnen! «
Sebastian Mühlenhoff M.A.
Mitbegründer von iQ athletik, Sportwissenschaftler
Den Goldstandard der sportwissenschaftlichen Leistungsdiagnostik bildet auf internationaler Ebene – nach wie vor – die „klassische“ Leistungsdiagnostik im Labor oder Feld. Hierbei werden verschiedene Stoffwechselparameter über einem bestimmten Belastungsverlauf beobachtet und bestimmt; z.B. durch einen Stufentest, Rampentest oder Dauerversuch. Etabliert hat sich dabei zunehmend die Kombination aus Spiroergometrie (Analyse der Atemgase) mit Laktatdiagnostik (mehr erfahren).
Diese Methodik verbindet jahrzehntelange Forschung und Entwicklung der Laktatdiagnostik mit den komplexen Informationen aus der Spiroergometrie. Durch die Informationsgewinnung und -dichte aus beiden Verfahren ist hier eine maximal mögliche Planungssicherheit für ein zielgerichtetes Training gegeben.
Durch eine zusätzliche Analyse der Körperzusammensetzung lassen sich weitere, wertvolle und individuelle Rückschlüsse für die Trainingspraxis ziehen.
Mit Blick auf eine hohe Qualität der Messergebnisse darf auch nicht der Einfluss der eingesetzten Messtechnik auf die Ergebnisse vergessen werden. So unterliegen z.B. mobile Powermeter und Handgeräte zur Laktatdiagnostik anderen Gütekriterien als permanent gewartete und kalibrierte Messgeräte, die fest in einem Labor installiert sind. Eigene Untersuchungen zeigen z.B. immer wieder, dass im Feld abgenommene Laktatproben mit gängigen Handgeräten – besonders in hohen Laktatbereichen – eine deutliche Abweichung gegenüber den Messwerten aufweisen, die im Labor unter höheren Standards ermittelt werden (mehr erfahren).
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Quellenverzeichnis: